erste SeiteNeue Generation 1917, 7/8

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Moralität und Sexualität.

Am 3. 7. d. Js. starb Geheimrat Professor Dr. Albert E u 1 e n b u r g im Alter von 77 Jahren. Unsere Bewegung verliert in ihm nicht nur ein langjähriges Mitglied, sondern einen der verständnisvollsten Freunde und Mitarbeiter.

Eulenburg, als Sohn eines bedeutenden Berliner Orthopäden am 10. August 1840 geboren, von universellen Interessen und Fähigkeiten, wandte bald sein besonderes Interesse den Nervenkrankheiten zu. Diese Studien brachten ihn mehr und mehr in Zusammenhang mit den sozial— und sexualethischen Problemen. Als vor einigen Jahren die Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in einer ihrer Tagungen das Problem der sexuellen Abstinenz erörterte, gehörte sein Referat (das abzuhalten er selbst durch Krankheit verhindert war, ebenso wie bei unserem "Internationalen Kongreß für Mutterschutz und Sexualreform‘ in Dresden 1911) zu den verständnisvollsten und wertvollsten der Tagung. Sein großes Interesse für die moderne Bewegung der Sexualforschung hat er durch die Übernahme des Vorsitzes der von ihm mitbegründeten ‚‚Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft" bewiesen, bei deren Zeitschrift vom April 1914 er mit Dr. Iwan Bloch der Herausgeber war. Seinen wertvollen Schriften zur Sexualwissenschaft über Sexual—Neuropathie, sexuelle Neurasthenie, Sadismus und Masochismus ließ er zum Schluß noch die für uns vielleicht wertvollste folgen, die unter dem Titel ‚‚Moralität

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und Sexualität" erschien. (Verlag A. Marcus & C. Webers, Bonn, 1916) Er nennt diese Schrift ‚Sexualethische Streifzüge im Gebiet der neueren Philosophie und Ethik." Er hat sich darin der Mühe unterzogen, vom Standpunkt des Sexualreformers aus die Stellungnahme der deutschen Philosophie von Kant an zu dem sexuellen Problem zu untersuchen. Mir scheint zwar das Ergebnis erheblich bescheidener zu sein, als der Optimismus von Eulenburg es manchmal wahrnehmen will. Mit Recht setzt er in der Einleitung auseinander, wie schwierig eine Annäherung und Aneinanderschließung von Moralität und Sexualität ist, daß wir es in der Sphäre der Sexualität mit Äußerungen eines gewaltigen, wenn nicht des gewaltigsten Naturtriebes zu tun haben, den es gilt, in den Dienst der Kultur zu stellen oder mit ihren Anforderungen harmonisch auszugleichen. Das Verlangen nicht bloß nach einer Legalisierung, sondern auch nach einer fortschreitenden Ethisierung des Geschlechtslebens sei nicht zu umgehen. Vielleicht ist es aber doch von größerer Bedeutung, als Eulenberg in seiner Betrachtung Wort haben will, daß allein die klassischen griechischen Philosophen Sokrates und Plato in umfassender Weise sich mit diesem Problem auseinandergesetzt haben während die Sexualethik in der modernen Philosophie, nicht erst von Kant, sondern selbst schon von Spinoza an gerechnet, ein recht kümmerliches Dasein fristet.

Vielleicht gehört in der Tat eine so bejahende Lebensauffassung dazu, wie sie allein die griechische Philosophie auf ihrem Höhepunkt besaß, um hier mit der vollen Unbefangenheit und Freiheit des Lebenskünstlers dem Problem gerecht zu werden. Rousseaus und Goethes Wirkung ist es dann gelungen, in der Früh-Romantik wenigstens bei dem jugendlichen Schleiermacher, bei Friedrich Schlegel uni Novalis Liebe und Leidenschaft auch innerhalb der philosophischen Fthik ihr unverkümmertes Daseinsrecht nach und nach zu erkämpfen. Noch heute zehren wir für unsere neu-ethischen Bestrebungen von dem, was insbesondere der junge Schleiermacher in seinen ‚‚Vertrauten Briefen über die Lucinde" in ebenso feinsinniger wie maßvoller Form zusammengefaßt hat. Wenn wir heute die ‚‚Zehn Gebote des Schleiermacherschen ‚‚Katechismus der Vernunft für edle Frauen" lesen, so scheint uns in ihm heute fast alles auch vor unsern höchsten sittlichen Anforderungen unanfechtbar, und wir bedauern nur, daß ihr Verfasser im Laufe seines Lebens am Ende allzusehr ins Theologische hineingeraten ist.

Aber schon bei Schopenhauer begann wieder eine entschiedene Abbiegung von diesem höheren Liebesideal, die hauptsächlich durch seinen Pessimismus verursacht war, so daß er im wesentlichen über eine niedere, rein sinnliche Auffassung der geschlechtlichen Beziehungen als Äußerungen eines von seinem Standpunkt als verdammenswert erscheinenden blinden Naturtriebes im wesentlichen nicht hinausgekommen ist. Das Phänomen echter, tiefer, selbstentäußernder Liebe und Lebensgemeinschaft blieb ihm anscheinend fremd, sowohl als eigenes und individuelles Erlebnis, wie auch als Gegenstand begrifflicher Anschauung und Er—

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kenntnis. Andererseits freilich weist Eulenburg darauf hin, daß Schopenhauer wohl Verständnis für manche von sexual-reformerischer Seite neuerdings erhobene Forderungen auf eine weite und freiere Gestaltung des Geschlechtslebens, namentlich auf gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung auch solcher Liebesbündnisse besessen habe, die nicht durch das Band der Ehe legitimiert, aber von dem Gefühl eigener Verantwortlichkeit getragen und .aufrechterhalten sind. In diesem beschränktem Sinne wäre allerdings auch Schopenhauer den Vorläufern moderner sexualethischer Bestrebungen mit einigem Rechte zuzuzählen.

Wärmer und verständnisvoller als Kant und Schopenhauer stehen ihrer ganzen Weltanschauung gemäß Eugen Dühring im "Wert des Lebens" und Lotze in seinem "Mikrokosmos" dem Liebesproblem gegenüber. Nach Dühring haben wir das Recht, den gewöhnlichen Gegensatz des Sinnlichen und des Geistigen nur für einen Ausdruck quantitativer und formaler Verschiedenheiten zu halten. Was im gewöhnlichen Leben sinnlich heißt, ist gleichsam nur die im unterste Stufe der allgemeinen Sinnlichkeit. Was man dagegen im gewöhnlichen Sprach-gebrauch als geistig bezeichnet, ist nur der letzte Ursprung und die abstrakteste Form des Sinnlichen. Einen reinen Gegensatz werden daher nur der theoretische Verstand und die sinnliche Sphäre des Strebens bilden. Er tritt ähnlich wie ein Romantiker für ein sehr hohes Ideal der Liebe und Ehe ein, die sich immer besser und höher entwickeln soll. In der alten Form der Liebe, die noch keine richtige individuelle Ehe war, mit individueller Liebe nichts zu tun hatte, war das Weib nach Recht und Sitte bloß leidendes Objekt, trat noch gar nicht als P e r s o n in die geschlossene Lebensgemeinschaft ein. Die Ehe ist als die Verwirklichung der Liehe zu betrachten, worunter das g a n z e Wesen der Liebe, nicht etwa bloß der Wunsch nach Kindererzeugung gemeint ist. Hier berührt er sich mit Kierkegaard, dessen Essay "Über die ästhetische Gültigkeit der Ehe" vielleicht überhaupt zum Tiefsten gehört, was wir über die Zusammenhänge zwischen Liebe und Ehe in der philosophischen Literatur kennen.

Hermann L o t z e gehört zu den Philosophen. denen manche tiefere Einsicht sich erschlossen hat, so wenn er die Unterschiede zwischen der Familie und Gesellschaft charakterisiert, oder auch, wenn er sehr fein die Bedeutung der Gesellschaft gegenüber der primitiven Verherrlichung der Zweisamkeit erkennt. "Die sittliche Kraft der geselligen Beziehungen wurzelt auf dm Grunde des häuslichen Familienlebens, aber, und dies ist ein schöner und dem leicht sich abschließenden einseitigen Egoisnmus der Liebenden gegenüber wohl beachtenswerter Gedanke: jedes einzelne Paar bedarf auch wieder diesen größeren beseelten Hintergrund seines Lebens zur völligen Entwickelung der Humanität und zur Befriedigung aller seiner Gemüts-Bedürfnisse.‘ Lotze sagt: Ich bezweifle nicht, daß die kleinste Hütte Raum für glücklich liebende hat, aber wir können gewiß sein, daß ohne Erinnerung an eine Gesellschaft, deren bildenden Einfluß sie vor ihrer Isolierung erfuhren und ohne Rückkehr in diesen lebendigen

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Kreis das Glück ihrer Liebe nicht wesentlich größer sein würde, als es den Waldindianern zufällt, deren melancholische Paare einsiedlerisch und stumm in Aufsuchung und Genuß der täglichen Bedürfnisse nebeneinander hingehen D a s D r a m a d e s L e b e n s fällt z u inhaltslos aus, wenn nur zwei Personen es spielen; sie bedürfen wenigstens des Chores, der ihnen die unendliche Fülle menschlicher Interessen gegenwärtig erhält, von denen ihre eigenem, wechselseitigen Beziehungen doch immer nur einen kleinen Teil zu Bewußtsein bringen." Scheint hier das Problem der richtigen Bewertung zwischen Gesellschaft und Individuum theoretisch gelöst zu sein, so wird uns von Standpunkt unserer Sexualreform aus weniger sympathisch der Schopenhauerjünger Eduard von Hartmann anmuten, der von seinem Meister zunächst sozusagen nur die schlechten Eigenschaften übernommen hat, was doppelte Moral und seine Rechtfertigung des beliebten "polygamen Instinktes

des Mannes‘‘ betrifft. Während er andererseits später freilich das von ihm der "Gefühlsmoral‘‘ zugewiesene Moralprinzip der Liebe eingehend würdigt. Liebe ist für Hartmann Vereinigungssehnsucht‚ eine Vereinigung des Egoismus durch Erweiterung des eigenen Selbst über die Sphäre des Ich hinaus. Diese ersehnte Vereinigung wird in der Liebe ideell antizipiert. Die Konkurrenz zwischen Geschlechtsliebe und Freundschaft liegt nach seiner Meinung in der Anerkennung, daß die höchste Erscheinungsform der Liebe nur in der innigen Vereinigung von Geschlechtsliebe und Freundschaft zu finden ist. Damit hätte er dann allerdings die gewaltsamen Härten seiner frühesten Periode überwunden. In seiner

"P h ä n o m e n o lo g i e des sittlichen Bewußtseins‘‘ (Berlin 1879) ist er, sie wir gesehen haben, weit über die frühere Verachtung der Frau in seiner "Philosophie des Unbewußten" hinausgegangen. Nachdem Eulenburg noch W u n d t s und C o h e n s Stellungnahme zum Sexualproblem kurz gestreift, auch Nietzsch3 flüchtig erwähnt hat, beschäftigt er sich mit unserer Bewegung, wie sie sich im Bund für Mutterschutz und der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Die Neue Generation" in den letzten Jahren gezeigt hat. Unter den jüngeren Philosophen ist es übrigens der vor kurzem verstorbene, feinsinnige Theodor L i p p s ‚ der nach Eulenburg unsern neuen ethischen Forderungen in seiner Schrift "Die ethischen Grundfragen" 1912 am nächsten kommt. Ehe ist ihm die sinnlich-sittliche Geschlechtsbeziehung überhaupt, abgesehen von der äußeren Form, die ihr die öffentliche Anerkennung schafft. Was der Ehe ihr sittliches Recht gibt, ist niemals die Legalisierung sondern einzig der Bestand des sinnlich-sittlichen Verhältnisses. Die Legalisierung ist nicht Grund des sittliches Rechtes der Ehe, sondern kann nur eine natürliche und notwendige Folge desselben sein. Keine äußere Form schafft einen sittlichen Wert, wohl aber kann ein bestehender sittlicher Wert nach einer äußeren Form, in der er sich darstellt, und durch die er geschützt wird, notwendig verlangen, Lipps findet für den Mann, der das Weib

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herabwürdigt, Worte der härtesten Anklage und der schärfsten Entrüstung.

Auch mit Georg Simmel setzt sich Eulenburg auseinander, dessen Essays zum Geschlechtsproblem vor allem unter dem Titel "philosophische Kultur" erschienen sind. Es ist bei Simmels außerordentlicher Differenzierungsfähigkeit begreiflich‚ daß ihm dabei viele geistreiche Bloßlegungen gelingen, auch wenn man seinen Standpunkt für sehr subjektiv männlich halten muß, sogar subjektiver, als man von einem Vertreter der ‚‚objektiven männlichen Kultur" annehmen sollte. Bei einigen jüngeren Philosophen, Emil Hammacher (‚Hauptfragen der modernen Kultur‘, Leipzig und Berlin 1914, Teubner), wie bei B e r o 1 z h e i m er und Max Scheler (Abhandlungen und Aufsätze, 2 Bände, Leipzig, Verlag der Weißen Bücher) findet Eulenburg ein gewisses Verständnis für unsere Bestrebungen. Hammacher gehört leider zu den im Kriege Gefallenen, während Scheler sich während des Krieges durch sein Buch " Der Genius des Krieges" bekannt gemacht hat. Dagegen scheint ihm in der Tat ein Verständnis für unsere Bestrebungen in innezuwohnen, wenn er meint, daß die ökonomisch selbständigeren Frauen durch ihre Herzenswahl auch bessere Chancen der Fruchtbarkeit zu verschaffen vermögen. Fr erklärt: ‚‚so verworren auch die Bestrebungen für Mutterschutz und Mutterrecht, für Ehereform und für eine sogenannte neue weibliche Ethik gegenwärtig noch sind, so müssen sie doch als erste Anfang gelten, als eine Art von Frauenbewegung, die mit der bisher den Hauptschauplatz der Öffentlichkeit einnehmenden Bewegung in scharfem Gegensatz steht." Scheler hebt das Erwachsensein, auf Grund der veränderten ökonomischen Verhältnisse, einer neuen sozialen weiblichen Schicht — wohin z. B. die Privatangestellten gehören — hervor und hebt das im Gegensatz von der älteren Frauenbewegung von der jüngeren bekundete fürsorgende Interesse für diese "an der Grenze stehende soziale weibliche Schicht, und insbesondere für jenen Teil derselben, der trotz hoher menschlicher und eben wegen spezifisch weiblicher Eigenschaften dazu verurteilt ist, in das Chaos der Gesellschaft zu versinken und den Zielen der Bewegung nicht folgen zu können, welche die ältere Frauenbewegung allein propagierte."

Mit Recht wendet sich Eulenburg zum Schluß gegen die Torheit unserer Gegner, die sich, durch das Schlagwort von der "freien Liebe" betören lassen, während Eulenburg mit Recht daran erinnert, daß ihm unter den Vertretern der neuen Ethik niemand bekannt ist, der sich diesen Standpunkt zu eigen gemacht habe. Die historische Notwendigkeit unserer Bestrebungen sieht Eulenburg mit Recht vor allem darin, daß wir uns gegenwärtig wieder einmal in einer Bewegung befinden, die den Staatsbegriff als fast alleinige Verkörperung des sittlichen Ideals zu schwindelnder Höhe emporträgt, während der sittliche Fortschritt sich doch nur so vollziehen kann, daß zwischen den Ansprüchen von Staat und Gesellschaft und den individuellen Recht— und Glücksforderungen ein v e r —

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mittelnder Ausgleich gefunden wird. Und daß ein solcher Ausgleich sich namentlich in der so wichtigen Frage der Rechtsschutzverstärkung für uneheliche Kinder- und Mutterschutzes anbahnt, wo Staats- und Einzelinteresse richtig verstanden am nächsten zusammenlaufen, darauf haben wir ja hier in unserer Zeitschrift schon mehr als einmal hingewiesen.

Schon diese kurze Betrachtung der letzten Arbeit der Siebenundsiebzigjährigen Forschers zeigt, wie wertvoll sein Rückblick auf das letzte Jahrhundert deutscher Philosophie in ihrer Beziehung zur Liebesmoral war und daß er Recht hat, wenn er meint, daß der seit einem halben Jahrhundert betriebene Kantkultus, so fruchtbar er sonst zweifellos ist, gerade ausnahmsweise dem Sexualproblem nicht eben zugute gekommen ist und seiner Art nach auch nicht kommen konnte. Hier wird es wohl bei der Rückkehr zur romantischen Ethik bleiben müssen, worauf wir von Anfang unserer Bewegung an hingewiesen haben. Auch N i e t z s c h e kommt, als dem kühnsten Sohn und Erben der Romantik, hier eine größere Bedeutung zu, wie ja von ihm auch das Wort, der Begriff der ‚‚N e u e n E t h i k" geprägt ist. Es lohnt sich für uns, darauf noch einmal in eingehenderer Form zurückzukommen.

Dem warmherzigen Forscher und Kämpfer Albert Eulenburg aber werden wir am besten danken, wenn wir in seiner milden verständnisvollen Art weiter kämpfen für die Befreiung von Haß - und Vorurteilen in Wissenschaft und Leben.              H. St.