MUTTERCHUTZ

ZEITSCHRIFT zur REFORM

DER SEXUELLEN ETHIK

erste Seite

HERAUSGEBERIN DR. PHIL. HELENE STOECKER
1907 APRIL       Mutterschutz. 4. Heft. 1907.                  Seite 145 (nach Original)

Von Weitling zu Schleiermacher.                                                                                                

Man kann nie optimistisch genug sein. Wenn uns vor zwei Jahren unter dem Hagel von Geschossen, die auf uns niedersausten, hätte bange werden wollen um die Weiterentwicklung unserer Bewegung, so wussten wir doch: es genügen oft wenige Jahre, um einer neuen Idee, die man mit Steinwürfen empfangen, Achtung und Verständnis zu sichern. So war es denn nur alte psychologische Erfahrung, die uns damals in einer Polemik mit einer unserer schärfsten Gegnerinnen sagen liess: in einem Jahrzehnt werde man auch auf jener Seite unseren Problemen viel ruhiger gegenüberstehen, ja vielleicht ganz vergessen haben, dass w i r es zufällig gewesen, die zuerst wieder den Finger auf diese Wunde gelegt haben.

Diese Prophezeiung ist schneller als man hoffen durfte, in Erfüllung gegangen. Einen grossen Teil unserer Arbeiten und Aufgaben nehmen jetzt schon die konservativen Richtungen der Frauenbewegung auf, oder suchen sie uns gar aus der Hand zu nehmen. Denn die innere Notwendigkeit eines grösseren Schutzes, einer höheren Wertung der Mutterschaft ist zu einleuchtend, und die praktische Arbeit hat zudem den Vorteil, dass sie, wenn man etwas "Sichtbares" geschaffen hat, hernach um so beruhigter ausruhen kann. So notwendig und nützlich jede praktische Einzelarbeit ist, so gefährlich für den Fortschritt der Menschheit ist sie, wenn sie nicht zugleich von der stetigen geistigen Aufklärungsarbeit begleitet

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ist, von der Erkenntnis, dass alle praktische Einzelarbeit immer nur ein Tropfen auf einen heissen Stein sein kann,

wenn man nicht zugleich auch die Umwandlung der rechtlichen und wirtschaftlichen Zustände, die Umwandlung der inneren Gesinnung der Menschen erstrebt. In dieser Verbindung von praktischer sozialer Tätigkeit und intensiver theoretischer Propaganda haben wir daher immer einen der Hauptvorzüge unseres Bundes gesehen, den wir um keinen Preis uns streitig machen lassen möchten.

Es ist vollkommen klar: unsere Aufgaben wären unendlich viel leichter und einfacher gewesen, unsagbar viel Schmähungen und Verdächtigungen wären uns erspart geblieben, wenn wir von vornherein erklärt hätten, nur ein paar unglücklichen Müttern und Kindern helfen zu wollen. Aber im Interesse der grossen Kulturentwicklung mussten wir lieber Schmähungen und Verdächtigungen hinnehmen, als dass wir unsere Arbeit so gefährlich eingeengt hätten. Und nun fehlt es uns wahrlich, so lebhaft auch der Kampf im grossen und ganzen noch wogen mag, nicht an Zeichen, dass ein besseres Verständnis für unsere Ziele sich da und dort durchzuringen beginnt. Schon die persönliche Propaganda durch Vortragsreisen in allen Teilen Deutschlands, wie sie von einigen Vorstandsmitgliedern des Bundes, insbesondere von Maria Lischnewska, Adele Schreiber und mir unternommen wurden, hat uns gezeigt, dass aus früheren Gegnern (die zum grossen Teil nur deshalb Gegner zu sein glaubten, weil man sie falsch unterrichtet hatte) häufig Freunde und Anhänger wurden. Und als kürzlich eine unserer heftigsten Feindinnen, Anna Pappritz, in einem Vortrage über die Stellung der Frauenbewegung zur Sittlichkeitfrage es nicht unterlassen konnte, die alten, unhaltbaren und oft widerlegten Vorwürfe gegen unsere Bewegung vorzubringen, da musste sie sich von der Vossischen Zeitung belehren lassen, dass ihre Angriffe nicht sehr geschmackvoll und recht überflüssig gewesen, da wir in unseren Anschauungen über die Monogamie usw. durchaus auf dem Boden der Rassenhygiene ständen und sie mit ihren Ausfällen in uneingeweihten Kreisen nur die Verwirrung vermehren helfe.

Eine besondere Freude war es auch für uns, dass in den

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Verhandlungen des Abgeordnetenhauses der Abgeordnete Münsterberg die Aufhebung der Reglementierung forderte und zugleich deutlich aussprach, dass die Frage der Erziehung unehelicher Kinder, die Säuglingsernährung und der Mutterschutz nachdrückliche Unterstützung erforderte.

Als ein ebensolcher Fortschritt ist es zu begrüssen, dass der Minister von Bethmann-Hollweg in seiner Antwort bei der Erörterung der Prostitution eine Weite des Gesichtskreises und eine Feinheit der Weltanschauung bekundete, die wir bei unseren Ministern selten zu finden gewohnt sind. Er wies u. a. auf die Aufhebung der Reglementierung in Dänemark hin und meinte, dass wir uns diesem System nähern müssten, welches von der Reglementierung absieht und den gefährlichsten Auswüchsen der Prostitution in moralischer und hygienischer Beziehung durch verschärfte Strafbestimmungen entgegenwirkt. Es sei unzweifelhaft, dass bei einer neuen Formulierung des Strafgesetzbuches diejenigen, die sich in feiner Weise mit Kopf und Herz mit der Sache beschäftigt haben, gehört werden müssten. Auch in hygienischer Beziehung könne die Gesetzgebung nur Schranken errichten und Bestimmungen erlassen, die hernach durch die freie Tätigkeit der Gesellschaft und durch die richtig geleiteten Anschauungen des Volkes Leben gewinnen müssten. Alle Bestrebungen, die den Kampf gegen die Prostitution unterstützt wissen wollten, sollten von dem Gedanken ausgehen, dass auf die körperliche und sittliche Selbstachtung der grösste Wert zu legen sei. Und es ist durchaus nur im Sinne unserer Bestrebungen, wenn der Minister zum Schluss meinte, wenn sich die freie Tätigkeit der Gesellschaft in den Dienst dieser Bestrebungen stellte, um die Anschauungen des Volkes immer mehr und mehr zu läutern, und wenn durch eine andere Gesetzgebung diejenigen Bestimmungen beseitigt werden könnten, unter denen wir gegenwärtig leiden, dann werde es, wie er hoffe, mit der Zeit (wenn auch mit immer wiederkehrenden Rückschlägen) gelingen, die bösen Folgen, die Körper und Geist verwüstenden Auswüchse einer Naturkraft zu beseitigen, der wir Leben, Lust und Schaffensfreudigkeit verdanken.

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Eine von so gesundem und vornehmem Geiste zeugende Rede konnte natürlich von den Dunkelmännern nicht unangetastet bleiben. Und so erhob sich denn der Zentrumsabgeordnete Dr. Dietrich und sprach in edler sittlicher Entrüstung davon, er wolle nicht hoffen, dass der Herr Minister mit der "Naturkraft", von der er gesprochen, die Unsittlichkeit gemeint habe. Wo denn der Herr Minister alle diejenigen unterbringen wolle, die durch freien Entschluss dahin kommen, auf die Geltendmachung dieser Naturkraft zu verzichten? Worauf wir dem Herrn Abgeordneten Dr. Dietrich erwidern, dass dieses Häuflein nicht allzu schwer unterzubringen sein dürfte, da man in der alten Kirche diejenigen, die wirklich "aus freiem Entschluss" darauf verzichteten, zu Heiligen und Auserwählten machte! Der weitaus grösste Teil der heutigen Cölibatäre aber ist zu diesem Entschluss nicht freiwillig, sondern nur durch den ärgsten Zwang gekommen, und hat daher dieser unnatürlichen Forderung nur sehr mangelhaft entsprechen können. Wenn irgendwo gilt hier das Wort:

"Treibt die Natur aus mit der Heugabel, sie kehrt immer wieder." Der Minister von Bethmann-Hollweg konnte ruhig erwidern, dass er nur darauf habe hinweisen wollen, dass es sich bei dem Gegenstand, von dem die Rede war, um die Lebenskraft als solche handele, dass wir ihr nicht nur das Böse, sondern auch im letzten Grunde unser Dasein verdanken, und folglich auch das Gute und Edle, das wir schaffen.

Regt sich so allerorten ein immer eindringenderes Verständnis für unsere Probleme, so giebt ein Vortrag, den Gertrud Bäumer kürzlich in verschiedenen Frauenvereinen hielt, noch besonderen Anlass, sich der Umwandlung der Anschauungen in den wenigen Jahren unseres Bestehens bewusst zu werden. Unsere Leser entsinnen sich wohl noch der äusserst verletzenden Ausfälle, die gerade von dieser Stelle gegen uns gerichtet wurden. Sie gehörten in ihrer herabsetzenden, verächtlich machenden Tonart zu dem Unerfreulichsten, was damals laut wurde. Wir brachten unseren Lesern in Heft VIII des ersten Jahrganges einen Auszug jener "verständnisvollen" Kritik, von der nur hier ein Satz wiederholt werden mag,

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um den damaligen Grad ihres Verständnisses zu charakterisieren: "Um nun auch noch die anderen Autoritäten der neuen Ethik zu nennen: wahrscheinlich würde Goethe beim Anblick manches modernen Individualisten, der sich für das Ausleben seiner durchaus amusischen Genusssucht auf die Weltanschauung des Olympiers zu berufen wagt, dasselbe Gefühl ergreifen, das Heine bewegte, als ihm der Schneider-geselle Weitling als ‚Kollegen im Namen der Revolution und des Automismus ‚mit dem Handwerksgruss des ungläubigen Knotentums‘ anbiederte."

Nach dieser Probe haben unsere Leser gewiss verstanden, warum wir nicht daran dachten, dieser Kritikerin auf ihrem Wege zu folgen, da unsere Begriffe über das, was Takt und Feinfühligkeit betrifft, augenscheinlich zu weit auseinander gingen. Um so bemerkenswerter ist es, dass jetzt Gertrud Bäumer in ihrem Vortrage "Neue Ethik vor hundert Jahren" selbst die historische Entwicklung neuen Ethik seit einem Jahrhundert verfolgt und auf das erste Auftauchen einer individualistischeren Ethik in der Romantik hinweist. Wir haben bereits des öfteren in unserer Zeitschrift (vergl. u.a. Heft V des zweiten Jahrganges: "Lucinde" von Heinr. Meyer-Benfey) darauf hingewiesen, dass die neue Ethik durchaus nicht so neu sei, wie es nach der allgemeinen Verständnislosigkeit und der Heftigkeit der Angriffe, deren sie sich zu erfreuen habe, zu erwarten wäre. Sie könne ihren Stammbaum über ein Jahrhundert zurückverfolgen. Und wenn ihr erstes Auftauchen im Bewusstsein der Menschheit recht in die Mitte der früh-romantischen Bewegung fiel, so erscheine es nicht zufällig, dass sie gerade in unserer Zeit der romantischen Renaissance wieder erwacht sei und sich nun zu breiter und fruchtbarer Lebenswirkung rüste. Es sei die Einheit von Seele und Sinnlichkeit die hier als ein neues, positives Ideal der Ethik gefordert werde.

Auch Gertrud Bäumer führt in ihrem Vortrage laut stenographischem Bericht aus, dass das, was sich vor hundert Jahren die neue Moral nannte, seine Nahrung aus jenem Aufflammen und Anschwellen des Ichgefühls gezogen, das künstlerisch-produktiven Zeiten eigentümlich zu sein pflege.

Friedrich Schlegel unternehme es in seiner "Lucinde"

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eine "neue Moral" zu stiften.‘ Schlegel wollte in seiner Geschichte nichts weniger als ein Idealbild aufstellen; wie Julius, der Held der "Lucinde", durch alle seine Liebes-wirren nicht befriedigt, sondern grenzenlos unglücklich, verwirrt und in vollständige Verzweiflung gebracht ‘wird, hat schon Meyer-Benfey a. a. 0. betont. Dies zeigt deutlich, wie für den tieferen, ernsten und wahrhaften Menschen die Liebesversuche durchaus nicht eine lustige und leichte Sache sind, sondern etwas, das ihn im Innersten aufwühlt und erschüttert:

"Die Schmerzen, die ein Mensch, der zum höheren Leben bestimmt, zu leiden hat, ehe er geboren wird." Aber das Ziel ist dieser Mühen und Leiden wert, denn es verleiht dem Menschen das Höchste: die Vollendung seines eigenen Wesens.

Als Schlegels Lucinde erschienen war, und die .Menge mit den nichtigsten Bemerkungen darüber herfiel, entschloss sich sein Freund Schleiermacher, über die Moralität der Lucinde zu schreiben. Gertrud Bäumer berichtet darüber: "Wenn man Schleiermachers ‚Vertraute Briefe über die Lucinde‘ nach der Lucinde liest, hat man das Gefühl, wie wenn ein Meister die verpfuschte Zeichnung eines Schülers richtig stellt, indem er nicht nur die Absicht ins rechte Licht setzt, sondern auch aus der eigenen Natur heraus idealisiert, erhebt und verfeinert. Und so erscheint in den Vertrauten Briefen die neue Moral auf den reinsten und deutlichsten Ausdruck gebracht, und da ist es frappierend, wie sich bis in die einzelnen Wendungen des Gedankens die Verkündung der neuen Moral von 1800 und der neuen Ethik von 1900 berühren.

Schleiermacher sucht eine Sinnlichkeit, in der die neue Auffassung der Liebe recht zum Ausdruck kommt. Die tiefe metaphysische Intensität von Sinnlichkeit und Geistigkeit muss die Voraussetzung für die Betrachtung der Liebe sein. Das Sinnliche als Symbol und Zeugnis für die Gegenwart der Geistigkeit kann nicht ekelhaft sein. Diese Auffassung hat die Antike gehabt. Die Liebe war bei den Alten etwas Göttliches; der modernen Kultur ist sie verloren gegangen. So hatte man aus der Sinnlichkeit nichts zu machen gewusst, die man nur aus Ergebung in den Willen Gottes und der Natur wegen erdulden muss. Der Sinn der neuen Moral ist, die Einheit von Sinnlichkeit und Geistigkeit wieder herzustellen. Auch dies hat die neue Ethik gemeinsam mit der von 1800."

Vorn kommunistischen Schneidergesellen Weitling zu einem der ernstesten und vornehmsten Geister der Romantik, zu Schleiermacher heraufgerückt in der Tat, innerhalb von

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sechzehn Monaten eine Wandlung, von der wir ihrer psychologischen Merkwürdigkeit halber hier Kenntnis nehmen wollen. Auch unsere ehemalige scharfe Gegnerin muss bekennen, dass nun ein neuer Faktor dazu gekommen ist, der damals bei der neuen Moral von 1800 noch nicht mitsprach und der die Möglichkeit der Verwirklichung dieser Ideen in sich trägt: die wirtschaftliche Selbständigkeit der Frau. Unser Streben, soweit es sich auf die Entwicklung der Gesetzgebung und des Staates bezieht, geht in der Tat dahin, die volkswirtschaftliche Last der Kindererziehung als solche! - wohlverstanden: nur die volkswirtschaftliche Last, nicht die Kindererziehung als solche! immer mehr zur Sache der Allgemeinheit zu machen und die Frau am Produktionsprozess zu beteiligen. ) Gertrud Bäumer gibt selbst zu, dass unter dieser Voraussetzung unsere Forderungen in sich konsequent seien.

Bei der Ehe gilt es, wie schon Naumann sehr richtig betont hat, zu unterscheiden zwischen den wesentlichen, ewigen Bestandteilen und den vergänglichen Formen der durch sie gestellten Aufgaben. Auch eine wirtschaftlich freie Frau wird auf die wesentlichen ewigen Aufgaben der Ehe nicht verzichten. Eine "Abschaffung" der Ehe aber, die uns von manchen Gegnern immer noch untergeschoben wird, könnte nur ein Don Quichote "beschliessen", und es ist für jeden halbswegs historisch und psychologisch gebildeten Menschen ein wenig hart, sich gegen eine solche Torheit erst noch verteidigen zu sollen.

Aphorismus.

"Je grösser eine Seele, desto grössere Anziehungskraft übt sie aus. Mit jedem Zoll, den wir geistig wachsen, schlägt unsere Liebe ihre Wurzeln tiefer, Um der Liebe willen ersehnen wir die neue Zeit." Olive Schreiner (Lyndall).