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Die Liebe und die Frauen

Von

Dr. phil.Helene Stöcker    

J. C. C. Bruns‘ Verlag Herzogl. Sächs.u. Fürstl. Schaumb. - Lipp. Hof.Verlagsbuchhandlung

                                         Minden in Westf. 1906

                                       Seite 172 (nach Original)
Die Ziele der Mutterschutzbewegung.
(1905)

Seit einiger Zeit haben wir in Deutschland eine Bewegung, die unter dem Namen der "Mutterschutzbewegung" bekannt ist. Sie zählt zu ihren Mitgliedern Männer und Frauen, deren Namen eine Gewähr dafür bieten, daß es sich hier um eine ernste und bedeutungsvolle Sache handelt. Zwei Hauptaufgaben hat sie sich gestellt. Sie will einmal praktische soziale Tätigkeit entfalten, indem sie die Gründung von Mütter- und Kinderheimen anregt; dann aber hat sie sich das ganze, große Gebiet der Aufklärung über die sexuellen Probleme zum Ziel gesetzt., eine Aufklärung, von der sie eine Reform der sexuellen Ethik erhofft. Gerade in der Verbindung von praktischer sozialer Tätigkeit und intensiver, theoretischer Propaganda sehen wir einen der Hauptvorzüge des Bundes für Mutterschutz. Die geistige Aufklärung soll ihren Mittelpunkt haben in unserm Organ "Mutterschutz, Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik".

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Was zur Gründung des Bundes und zur Übernahme der damit verbundenen Arbeitslast und Verantwortung veranlaßte, war wohl auf allen Seiten die Erkenntnis, daß hier Verhältnisse herrschen, die gebieterisch nach einer Klärung verlangen. Man braucht nur ein Jahrzehnt zurückzudenken, um zu sehen, welche Entwickelung hier vor sich gegangen ist. Es sind jetzt etwa zehn Jahre, daß sich die deutschen Universitäten den Frauen eröffneten, daß damit einer größeren Anzahl von Frauen die Möglichkeit wurde, ihren Gesichtskreis zu erweitern, sich ein systematisches Wissen auch auf den Gebieten anzueignen, die man bisher den Frauen vorzuenthalten für gut hielt. Und es war ganz natürlich, daß die Frau nun auch die Welt und die sie beherrschenden Mächte in ihrer harten, grausamen Wirklichkeit kennen lernte. Sie kennen lernte, nicht nur wie bisher als hilfloses Einzelwesen, das ohne Kenntnis des historischen und sozialen Zusammenhangs sein eigenes Geschick für ein außergewöhnlich herbes und trostloses hält, sondern es mußte ihr die Erkenntnis aufgehen, daß hier ganze Geschlechter unter denselben Bedingungen emporwuchsen, unter denselben Bedingungen um ein froheres, reicheres, beglückteres Dasein betrogen wurden. Und selbst der anfängliche Zorn gegen das herrschende Geschlecht der Männer, dem es äußerlich in manchem so viel besser erging, mußte der vertieften Betrachtung weichen, daß auch dem Manne die letzte Höhe der Kultur versagt ist, solange die Gefährtin seines Lebens ein Spielball roher Willkür bleibt.

Es ist kein Zufall, daß es gerade vor Gretchens Kerker ist, vor dem Kerker der schuldig-unschuldigen Kindesmörderin, daß der Menschheit ganzer Jammer Faust ergreift. So viel die Menschen auch gegeneinander in Roheit und Barbarei sündigen mögen, so sehr sie sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen, klarer zeigt sich doch vielleicht nirgends die ganze Brutalität menschlicher Zustände als auf sexuellem Gebiet. Man

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muß es nur einmal, nur für einen kurzen Augenblick recht erfassen, welcher Widersinn darin liegt: Die große Bedeutung der Frau für die Menschheit liegt in der Mutterschaft. Und doch hat man sich, seit es eine Einehe nach Vaterrecht und damit die Prostitution auf der andern Seite gibt, nicht gescheut, jede Mutterschaft der Frau außerhalb der Vaterrechts-Ehe ihr als ein Verbrechen anzurechnen. Ja, vielleicht gerade der Mann, der der Vater ihres Kindes war, ist mit unter denen gewesen, die sie wegen ihres "Leichtsinns" tadeln und verachten. Er, der Mann, als der, der bisher allein Werte schuf, der sich selber über dem Gesetz fühlte. Solange die Frauen eine stumme, unorganisierte Masse waren, ungeschult zum pekuniären Kampf ums Dasein, so sehr man ihre Arbeitskräfte auch von jeher ausgebeutet hatte, konnte dieser trostlose Zustand, wenn auch zum Schaden für beide Teile wohl bestehen. Nun aber ist die soziale Entwickelung an einem Punkt angekommen, der jeden Einzelnen zur Arbeit und zum Kampf ruft, der die Verantwortung jedes Einzelnen für sein Geschick fordert. Damit hört natürlich auch die General-Vormundschaft des einen Geschlechtes über das andere auf, die bei der raub tierhaften Natur des Menschen ohnehin in der Mehrzahl der Fälle nur zu Mißbrauch und Ausbeutung führen mußte. Nun sind in einer ganzen Schar höher entwickelter Menschen andere, edlere Bedürfnisse wach geworden. Ihre Sehnsucht geht nach einer Kultur, in der nicht nur die Kraft der Hoheit., sondern auch die Kraft der Güte herrscht. Diese neue Kultur soll sich aber vor allen Dingen in den Beziehungen der Geschlechter offenbaren. Sie soll wirklich die Mutter in der Frau ehren,

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wie man das ja seit Jahrhunderten in der Kunst, in der Dichtung, ja, selbst in der Religion tut, ohne diese Verehrung jedoch je in die Wirklichkeit zu übertragen. Nirgends vielleicht ist der Kontrast zwischen Dichtung und Leben, fast möchte man sagen, zwischen Phrase und Leben, greller als auf diesem Gebiet. Als eines der höchsten Symbole der Menschheit hat man die Mutter angesehen. Noch heute ist für Tausende von Menschen die Mutter Gottes die letzte und trauteste Zuflucht. Wie aber ist es mit der Verehrung der Mutter in der Wirklichkeit bestellt?

Freilich liegt auch gerade in der Anschauung der katholischen Kirche, die den menschlichen Bedürfnissen so weise diese Zufluchtsstätte des mütterlichen Herzens schuf, - gerade in ihrer Anschauung liegt auch eine der Hauptursachen, daß die Mutter im Leben diese Verehrung so wenig genießt. Denn die Kirche hat ja ihrer Auffassung gemäß die Mutterschaft von vornherein mit einem Makel bedeckt. Nach ihrer Lehre von der Erbsünde, die ja nicht nur im Katholizismus, sondern ebenso im Protestantismus gilt, heißt es noch heute, daß wir alle in Sünden empfangen und geboren werden. So hat man den Ursprung des Lebens vergiftet, und auch der Mutter Gottes gegenüber hat man sich nur zu helfen gewußt, indem man sie zur "jungfräulichen" Mutter umschuf. Wenn wir der Mutter wirklich die ihr gebührende Stellung im Leben verschaffen wollen, wenn die Heiligkeit der Mutterschaft eine Wahrheit und nicht nur eine Dichtung bleiben soll, dann gilt es vor allem den Kampf gegen diese Weltanschauung aufzunehmen. Je länger man mit diesen Problemen ringt, um so unerbittlicher wird man immer wieder zu diesen

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Resultaten geführt. Alles andere sind nur Palliativmittel, muß bloßes Stückwerk bleiben. Wir wollen nicht nur ein paar Symptome kurieren; wir wollen in die letzten Ursachen hinabsteigen und dort zu heilen versuchen. Wir sind uns völlig klar darüber, daß wir diesen Kampf nicht zu Ende führen können, daß noch Generationen nach uns ebenso zu kämpfen haben werden. Wir wissen auch, daß dieser Kampf seit Jahrhunderten bereits geführt wird. Vielleicht besteht er so lange, als es überhaupt Menschen gibt, denn es ist im Grunde der Kampf zwischen Lebensbejahung und Lebensverneinung. Es ist der Kampf zwischen denen, die die Sonne lieben und sie überall zu suchen wissen, und zwischen denen, die alles in Dunkel und Grau gehüllt sehen. Die eine Anschauung lehrt, das Leben trotz aller Schmerzen und Unzulänglichkeiten, trotz aller Schrecken und Widerwärtigkeiten als eine köstliche, heilige Gabe anzusehen, die man mit dankbarem und frohem Herzen entgegennimmt, die man selber, so gut es geht, auszugestalten sucbt. Die anderen sehen das Leben fast wie ein unheilvolles Geschenk an, das gleichsam wie eine Strafe über sie verhängt ist. Vielleicht liegt es nicht einmal in unserer Macht zu bestimmen, ob wir zu der einen oder zu der andern Art von Menschen gehören wollen. Vielleicht ist es nur eine Güte des Schicksals, die uns die Freude am Leben und an der Liebe mitgab; vielleicht ist es eine ungerechte Benachteiligung der andern, die ihnen die Freude am Leben verweigert hat. Was wir tun können ist vielleicht nur, daß wir den Einzelnen zwingen, sich klar zu werden, zu welcher Gruppe von Menschen er seiner Natur nach gehört. Und vielleicht diese Hoff-

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nung haben wir wenn die Menschen erst lernen, über diese Dinge nachzudenken, vielleicht wird dann doch ein größerer Teil sich zur Sonnenseite des Lebens wenden, als es bisher geschah. Auch das Leben muß man lernen.

Die Menschheit hat im Laufe der Entwickelung ihre köstlichsten Errungenschaften oft wieder für Jahrhunderte scheinbar verloren, bis ein neues Geschlecht kam, mit der gleichen starken Sehnsucht nach den verloren gegangenen Schätzen und sie wieder entdeckte. Vielleicht aber hat dieses neue Geschlecht auch noch dazu gelernt; es vermag die alten Errungenschaften noch zu verbinden mit neuen. Und so dürfen auch wir hoffen, wenn wir jetzt einen alten und doch ewig neuen Kampf kämpfen, daß wir im Laufe der Zeit einiges dazu bekommen werden, das uns Aussicht auf dauernderen Erfolg gibt, als ihn unsere Vorgänger vielleicht haben konnten. Uns kommen, so glaube ich, die allgemeinen sozialen Verhältnisse zugute. Man möchte glauben, daß nun die Zeit für diese Dinge reif sei. Denn das ist vielleicht in dieser Art doch ein Neues in der Geschichte, daß die Frauen als solche nun mitbeginnen, ihre Geschicke in die Hand zu nehmen. Wohl hörten wir schon aus dem Spott des Aristophanes über den Weiberstaat, wohl wissen wir aus der Geschichte der römischen Kaiserzeit, daß auch auf jenen Höhen der Kultur die Frauen sich zusammenschlossen zur Erringung größerer Rechte. Aber heute ist der Unterschied doch vielleicht der, daß die Frauen nicht nur größere Rechte für sich beanspruchen, sondern daß sie mitschaffen wollen an der allgemeinen höheren Entwickelung, daß Mann und Frau sich nicht mehr

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als Feinde gegenüber stehen, sondern daß sie anfangen zu begreifen, daß der eine Teil sich nicht wahrhaft entwickeln kann auf Kosten des andern. Dazu hilft uns die viel bessere Kenntnis der historischen Entwickelung, zu begreifen, was wir heute zu fordern haben. Als sich vor Jahrhunderten aus dem Zustand der allgemeinen Vermischung der Geschlechter die Ein-Ehe nach dem Vaterrecht entwickelte, war sie für die allgemeine Kulturentwickelung wohl ein Fortschritt, aber ein Fortschritt, dessen Kosten einstweilen die Frauen zu zahlen hatten. Denn er gab dem Manne zwar das Recht und die Pflicht, für seine sogenannten legitimen Kinder zu sorgen ; er verurteilte aber die Frau, die bis dahin relativ gleich mit dem Manne gestanden hatte, zur absolutesten Unterordnung unter die männlichen Zwecke. So wurde die eine Frau zur legitimen Gattin, die sich fortan auf den Verkehr mit einem Mann beschränken mußte, um die Legitimität der Erben zu sichern; die andere, der der Zufall nicht so günstig war, von einem Manne erwählt zu werden, war fortan von Geschlechtsverkehr und Mutterschaft ausgeschlossen, wenn sie sich nicht den schwersten Strafen aussetzen wollte. Die dritte Gruppe von Frauen endlich wurde zu dem traurigen Beruf der Prostitution gedrängt, zu einem Beruf, den natürlich die vorhergehenden Zeiten der allgemeinen Geschlechtervermischung nicht kannten und nicht zu kennen brauchten. Wenn die Ein-Ehe dennoch im Laufe der Jahrhunderte eine erzieherische und veredelnde Wirkung auf die Menschen gehabt hat, so wollen wir nicht vergessen, wie teuer diese Veredlung erkauft worden ist. Ja, es ist die Frage nicht abzuweisen, ob nicht das, was dafür gezahlt

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werden mußte, ebenso teuer war, als das, was wir dafür erhalten haben. Aber so viel wissen wir ja schon, daß die Natur eine ungeheure Verschwenderin ist, daß sie Tausende und Abertausende von Leben opfert, um einmal etwas Vollendetes hervorzubringen. Unsere menschliche Aufgabe ist es daher, dieser sinnlosen Verschwendung möglichst entgegenzuarbeiten.

Nun sind wir so weit, um diese Entwickelung zu übersehen. In einem Drama von Frank Wedekind: Hidalla, finden wir die Erkenntnis der tiefen Barbarei, die noch auf dein Gebiet der Liebe herrscht. Der tragische Held des Dramas, Karl Hetmann, versucht, "gegen die drei barbarischen Lebensformen zu kämpfen, die auf Jahrtausende alten Vorurteilen beruhen". Diese drei barbarischen Lebensformen sind nach seiner Meinung: die wie ein wildes Tier aus der menschlichen Gemeinschaft hinausgehetzte Dirne, das zu körperlicher und geistiger Krüppelhaftigkeit verurteilte, um sein ganzes Liebesleben betrogene alte Mädchen, und die zum Zweck möglichst günstiger Verheiratung gewahrte Unberührtheit des jungen Weibes. Er hofft, den Stolz des Weibes zu entflammen und sie zum Kampfgenossen zu gewinnen. Er nennt das Verharren in diesen Anschauungen, die aus den Zeiten tiefster Barbarei stammen, eine Vergötterung der Selbstverachtung.. So wie hier im Drama sich die Erkenntnis der ungeheuren Opfer ausspricht, welche die Aufrichtung der Ehe nach Vaterrecht gefordert, so kommt diese Anschauung nicht nur in einer Reihe anderer Dichtungen, sondern auch in der Wissenschaft heute in zahlreichen Fällen zum Ausdruck. Ja, manchmal möchte man glauben, das Bewußtsein der

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Widersinnigkeit dieser Zustände sei ein öffentliches Geheimnis, von jedem einzelnen vernünftigen Menschen längst erkannt. Und es fehle nur noch die Tatkraft eines Einzelnen, der deutlich ausspräche und ins Leben zu übertragen suche, was allen längst im Stillen richtig und notwendig erscheint.

Wenn es vor vierhundert Jahren Renaissance und Reformation waren, die gegen die alte Anschauung und das von ihr geprägte Leben revolutionierten, so ist eine solche Revolution heute ebenfalls wieder notwendig geworden. Es war der Schöpfer des Protestantismus, es war Luther, der gegen die Unnatur des Cölibats mit Worten kämpfte, die uns heute vielleicht die Verfolgung des Staatsanwalts zuziehen würden. Aber das, was ihnen unbequem ist, vergessen die Menschen immer nur zu schnell. Und wenn man nun heute wieder in viel milderer Form auf die Unnatur des Cölibats, unter dem vor allem die Frauen der gebildeten Stände leiden, hinweist, dann scheint es oft, als ob gerade unter den Anhängern der lutherischen Lehre jede Erinnerung an Luthers Kampf und Vorbild ausgelöscht sei.

Aber die noch schrecklichere Kehrseite unserer vaterrechtlichen Ehe, die Prostitution, kommt in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit doch immer mehr Menschen, Männern und Frauen, zum Bewußtsein. Ja, wer den Blick einmal in jene Tiefen gesenkt hat, wer die ganze Schauerlichkeit und Sinnlosigkeit der Opfer, die hier gebracht werden, nur einmal empfunden, der weiß, daß es keine Ruhe geben kann, ehe nicht diese tiefste Herabwürdigung des weiblichen Geschlechts in der furchtbaren Ausdehnung, die sie heute hat, aus—

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gerottet ist. Auch hier kommt uns die Erkenntnis der sozialen Zusammenhänge zu Hilfe, obwohl es nicht nur rein wirtschaftliche Ursachen sind, die hier mitgesprochen haben. Wenn nach den Forschungen der Wissenschaft die käuflichen Frauen überall dort sofort auftreten, wo der freie Geschlechtsverkehr der Jugend unterdrückt wird, ohne daß frühe Ehen einen Ersatz für letztere bieten, so wirft das ja Licht genug auf die eigentliche Ursache der Zustände. Und jeder, der eines objektiven Urteils fähig ist, muß zugeben, daß selbst die Verwirklichung der "freien Liebe", wie der Ausdruck lautet, ein kleineres Übel wäre, als die käufliche Liebe, die heute unser ganzes Liebesleben vergiftet. Sehr richtig sagt Dr. Robert Michels in einem Aufsatz über:  "Die Dirne als die ‚alte Jungfer‘ des Proletariats und die Prostitution" (Mutterschutz, Heft II, S. 63): "Solange es noch möglich sein wird, sich mittelst einer lumpigen Gold-, Silber- oder gar Nickelmünze Frauenkörper zu kaufen, ist unsere vielbesungene Zivilisation nichts anders als eine schöne Kulisse, hinter der sich Schmutz und Verbrechen verbirgt. Für die sie benutzende Gesellschaft aber ist sie nicht nur physiologisch gefährlich und moralisch infizierend, sondern selbst vom ästhetischen Standpunkt besehen ekelhaft. Trotzdem ist nichts törichter und lächerlicher als das mit voller Lungenkraft geschrieene ‚Nieder mit der Prostitution !‘, mit welchem unsere Moralisten von gestern und heute die Luft erschüttern wollen. Denn alle Entrüstung der Welt ist zweck- und nutzloser Kraftaufwand, wenn die bekämpfte Einrichtung nicht gründlichst analysiert und, soweit möglich, die sie als Wirkung erzeugenden Ursachen nicht aus der Welt ge-

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schafft sind. Die sexuellen Leidenschaften aller- dings haben im Menschen unausrottbare Wurzeln gefaßt, aber es ist wohl möglich, daß das sie zur Prostitution Degradierende : die feile Käuflichkeit, ans dem freien Spiel ihrer Kräfte ausgeschlossen wird. Nur eine relative, auf ökonomischer Basis beruhende Kulturgleichheit aller Volksmassen ohne Unterschied des Geschlechts wird der Ritter Georg sein, welcher den Drachen Prostitution in seiner heutigen Form wird erlegen können."

Unsere Aufgabe wird es daher sein, die Erkenntnis von der Häßlichkeit und Widerwärtigkeit dieser Zustände in immer weitere Kreise zu tragen. Wir wissen jetzt, daß alle menschlichen Dinge sich unter bestimmten Bedingungen entwickelt haben wir wissen damit auch, daß sie sich weiter verändern können. Wir brauchen also nicht hilflos die Hände zu falten, sondern sollen sie zur Änderung unhaltbar gewordener Zustände gebrauchen. Wenn dieser Wille zur Umänderung, der heute bereits in einer kleinen Minderheit von Männern und Frauen lebt, immer mehr in das Bewußtsein einer größeren Menge übergeht, dann ist die ganz natürliche Konsequenz, daß auch die Zustände von uns geändert werden. Unsere ganze soziale Entwickelung, die von der Frau aller Stände immer größere pekuniäre Selbständigkeit und Berufstüchtigkeit verlangt, geht ohnehin in dieser Richtung.

Was hier zu tun übrig bleibt ist einmal, den Leistungen der Frau im allgemeinen immer mehr die gebührende Bezahlung zu verschaffen; andererseits aber ihre Mutterschaftsleistung endlich in Wahrheit, nicht nur mit Redensarten, anzuerkennen. Das würde unter anderm dadurch geschehen, daß man die Mutterschaftsversicherung ausbaut, deren ersten

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Anfang wir heute schon in der Arbeiterschutz— Gesetzgebung haben. Denn nicht nur die uneheliche Mutter ist es heute, für welche die Mutterschaft nicht nur ein körperliches, sondern oft auch ein seelisches, ein soziales Martyrium bedeutet. Wie sich aus der Statistik ergibt, pflegt auch der eheliche Vater in einem erschreckend hohen Prozentsatz die Vaterpflicht abzulehnen, wenn sich in der Ehe mehrere Kinder einstellen: der Mann verläßt einfach Frau und Kinder, und die Zurückgebliebenen fallen der Not und Sorge, bestenfalls der öffentlichen Fürsorge anheim. Also selbst der Schutz der Ehe, welcher der Frau angeblich so sehr zugute kommt, fällt in einer sehr hohen Anzahl der Fälle fort; von dem Schutz der unehelichen Mutter durch die. Gesetze gar nicht zu reden, die ja eben auch hauptsächlich auf dem Papier stehen. Wenn es also möglich sein wird, dazu beizutragen, daß Mütter und Kinder nicht in so ungeheuer vielen Fällen rat— und hilflos dastehen, wenn wir daran gehen, die Mutterschaft der Frau mit allen ihren Konsequenzen als eine soziale Leistung zu bewerten, dann wird einer der wesentlichsten Schritte getan sein, der aus der Barbarei zur Kultur führt. Und manchmal möchte es scheinen, als seien wir von diesem Ziel nicht mehr allzu weit entfernt.